Nachruf

Der Sommeranfangstag des Jahres 1987 war kühl und grau. Ein leichter Nieselregen fiel, als ich einen Spaziergang im Tiergarten zusammen mit einem blonden Mädchen namens Kerstin unternahm.. viel hatten wir uns nicht zu sagen, aber dann wurde es doch noch interessant: aus einem Begrenzungsgebüsch zur Straße des 17. Juni fiepte es so seltsam.. ein Vögelchen? Nein, ein kleines dünnes schwarzes Kätzchen war´s, das in den Zweigen herumturnte und ununterbrochen um Hilfe rief; einfangen lassen wollte sich die Kleine dennoch nicht so einfach. Schließlich kam ich auf die Idee, meine blaue Strickjacke über sie zu werfen, und so brachten wir das strampelnde Geschöpfchen, in die Jacke gewickelt, nach Hause.

Wenn das Sprichwort von den neun Leben der Katze stimmt, begann in diesem Moment das 2. Leben dieses ausgesetzten oder weggeworfenen Kätzchens.. und noch trugst Du ja nicht den Namen Emily. Nicht viel größer als meine Hand – und meine Hände sind nicht groß – schätzte der Tierarzt Dich auf gut 6 Wochen, geschwächt und mit Würmern infiziert mußtest Du Findelkind noch Spezialmilchersatz zugefüttert bekommen und suchtest beim verdutzten Kater Pepper stupsend nach Katzenmutters Zitzen.
Der Tierarzt klärte uns auch darüber auf, daß Du ein weibliches Wesen bist.. so kamst Du an dem Namen Herbert vorbei, der Dir als Kater geblüht hätte (nach Herbert Achternbusch) und wurdest nach der stolzen und düsteren Emily Brontë benannt.

Liebe Emily, Du bist schnell zu einem munteren, verspielten Katzenkind herangewachsen, immer in Aktion, auf der Jagd nach unter der Bettdecke hervorguckenden Zehen, und zu einer begnadeten Akrobatin selbst für die Verhältnisse des Katzenreichs.. Klettern, Springen, Balancieren war Deine Welt.. und vielleicht begann Dein 3. Leben, als Du Dich aus dem angekippten Klofenster zwängtest und, ich weiß nicht wie, auf dem dreifingerbreiten Außensims zu stehen kamst und kläglich maunztest, so daß ich das Kippfenster abmontieren mußte, ganz vorsichtig, um Dich zu retten..
ein Sprung aus dem Stand auf die Kante der Balkontür, auf der Du dann wie ein Wellensittich hocktest, war auch nicht mehr unmöglich.. und von dort mit ausgefahrenen Krallen auf meine schwarze Lederjacke – die ich auch heute noch besitze, in ihrem glaubwürdig-abgewetzten Zustand gut für den Besuch von Punk-Konzerten geeignet.

Kraftvoll, schön und elegant warst Du sehr bald, eine Zierde für das Katzengeschlecht, das hat sicherlich auch am guten Futter gelegen.. Dosenfutter hast Du auch mal genommen, aber ein ordentliches Stück Steak oder Brathuhn, frischer Fisch oder Sahne, das traf eher Deinen Geschmack, es durfte aber auch mal Spinat sein, Champignons oder Mais aus der Dose..und vor allem mußte meine kleine Genießerin alles erst begutachten, bevor ich es etwa wagte, etwas zu essen!

Ein frühreifes Früchtchen warst Du auch; kaum ausgewachsen, packte Dich schon nahezu dauerhafte Rolligkeit – und alle Kater Deines Bekanntenkreises waren schon kastriert – da war auch für Dich eine kleine Operation fällig, um Dich vor weiterer Frustration zu bewahren..
und eine Besuchs-, Reise- und Umzugskatze warst Du von Anfang an; als jene Kerstin noch meine Freundin war, waren wir drei, vier Mal in der Woche mit Bus, S- und U-Bahn zwischen Gatow und Moabit unterwegs.. aber beschwert hast Du Dich doch jedesmal, wenn ich Dich in den Katzenkorb steckte!
Kerstin verließ mich, andere zweibeinige Begleiterinnen kamen und gingen, aber Du bliebst bei mir, machtest zwei Umzüge mit, dem Wechsel zwischen Wohnungskatzendasein und Gartenauslauf hast Du Dich auch (fast) ohne Murren angepaßt..
eine unproblematische Gefährtin! Ab und zu im Stehen neben das Klo pinkeln, das machen wir doch alle mal.. und Polstersessel zerkratzen – aber nur manche; Du hast eben immer Geschmack bewiesen!

Ich zähle nicht alle Deine neun Katzenleben durch, Emily.. einen Schreck verpaßt hast Du mir immer wieder mal, etwa, als Du aus dem Dachfenster abgestürzt bist und ich morgens die Krallenspuren auf dem steilen Schieferdach vorfand, von Deinem verzweifelten Versuch, die rasende Rutschfahrt zu stoppen.. Dich selbst fand ich erst Stunden später wieder, ganz verängstigt und mit aufgeschlagenem Näschen.. aber der Tierarzt bekam das wieder hin, wie auch Deine schlimme Erkältung und die böse Zahnvereiterung..

Aber wir alle werden älter, und auch Du wurdest ruhiger, anschmiegsamer und sanfter; Du klettertest nicht mehr so viel...wenn´s nötig war, hast Du immer noch den eleganten Sprung auf die Küchenarbeitsplatte draufgehabt, wenn dort Fleisch geschnitten wurde.
Immer hast Du mich mit freudigem Maunzen an der Tür empfangen und bist mir in die Küche vorausgeeilt, hast mit mir auf der Couch gekuschelt, warm und schnurrend, hast mich aus Deinen schönen Augen angeschaut, so voller Ruhe und Vertrauen, wenn ich Dein weiches Fell streichelte, hast mich zur Ordnung gerufen, wenn ich allzulange vor dem Computer hockte, warst mir Gefährtin in der Einsamkeit, einzig treue Freundin über 15 Jahre..

es hat mir so wehgetan, Deine Krankheit mitansehen zu müssen, wie Du Tag für Tag verfallen und dahingeschwunden bist, den Krebs in Deinem kleinen Körper, zu alt, zu schwach, keine Kraft mehr, noch weiterzukämpfen; am Ende hast Du noch zwei, drei Häppchen Futter aus meiner Hand angenommen, einen Schluck Wasser dazu getrunken und mich so müde aus kleinen, trüben Augen angeschaut. Du wußtest Bescheid und Du wolltest nicht mehr. Deine letzten Tage hast Du meist im Garten verbracht, auf dem Rasen liegend, ganz leise konnte ich noch Dein Schnurren hören wenn ich mich neben Dich legte, heiser und rauh war Deine Stimme geworden, wenn Du mich begrüßtest, den Kopf zu heben war schon so schwer.. das war der Tag, an dem die Tierärztin Dir ein letztes Mal helfen konnte: Dein Leiden zu beenden.

Ich habe schon auf der ganzen Fahrt zur Tierarztpraxis geweint. Dann streichelte ich Dich zum letzten Mal . Schlaf schön ein, liebe Emily, gleich tut Dir nichts mehr weh...

Jeztz liegt meine liebe Emily im Garten begraben, unter dem Eßzimmerfenster unter zarten blauen Lobelien, nicht weit von ihrem Freund, dem dicken Purzel, der ihr vorangegangen war.. eingehüllt in die selbe blaue Strickjacke aus dem Jahre 1987, die ich die ganze Zeit aufgehoben hatte, ohne zu wissen warum; erst an diesem Sterbetag war es mir klar.
Es war wieder ein kühler, grauer und verregneter Berliner Sommertag, an dem Du für immer von mir gingst; an dem der Kreis sich schloß.

Emily, ich werde Dich nie vergessen.

14.07.2002